Episode 3

Hier könnte ein schöner Titel stehen

Der kleine Laden in der Seitenstraße war sein Lieblingsort.
An einer der längeren Wände reihten sich Regale aneinander, aus denen von Büchern voller Partituren der Duft von altem, abgenutztem Papier strömte. Gegenüber standen ordentlich auf Ständern ausgestellt Streichinstrumente. Doch die Mitte des Raumes war das Imposanteste; alte Flügel – aus Ebenholz, poliert, matt, weiß, die meisten mit abgegriffenen Tasten.
Er ließ sich vor einem der Flügel auf einem Hocker nieder und warf dem Ladeninhaber, einem älteren Mann mit fahler Haut und gelben Zähnen, der seine besten Tage wie die meisten der Instrumente schon hinter sich hatte, einen fragenden Blick zu. Dieser nickte bloß lächelnd, als hätte er darauf gewartet, dass der etwas schlaksig wirkende Amerikaner sich an eines der Instrumente setzte.
Kurz schweifte der Blick des jungen Mannes zu einem Mädchen, das der Alte nicht zu sehen schien. Ein Nicken, dann begann er zu spielen.
Nach einigen Takten hatte der Alte das Gefühl, eine Geige zu hören, doch das Gefühl verflog und er neigte bloß den Kopf zum leisen Klappern der Tasten.

Alter Mann: Sie sind ein talentierter Junge, Alexander.
Alex: *hört auf zu spielen und sieht den Mann an* Vielen Dank. *neigt den Kopf ein wenig* Ich bin froh, dass es hier noch etwas anderes gibt, als elektronische Instrumente wie an der Universität.
Alter Mann: Der Wandel der Zeit… Der Wandel der Zeit…
Mädchen: Wem sagt er das..? *seufzt* Alles kommt nur noch aus irgendwelchen Blechbüchsen!

Alex ließ sie ein Selbstgespräch führen. Er hatte früh genug gelernt, dass die Leute ihn, wenn er ihr antwortete, für einen Wahnsinnigen hielten.
Viel mehr über sie gelernt hatte er jedoch bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht.
Ihr Name war Sasha, ihre Sprache war manchmal wie aus dem letzten Jahrhundert und dummerweise konnte sie durch Wände gehen. Mehrmals hatte sie ihm erklärt, dass sie über sein Schicksal entscheiden sollte, doch immer, wenn er sie ansah, war er nicht einmal sicher, ob sie sich für eine Sorte Eis entscheiden konnte.
Sie wippte unruhig auf ihren Füßen, während sich Alex mit dem Alten unterhielt, weshalb er das Gespräch zügig beendete und sich verabschiedete. Denn auch das hatte er gelernt: Sasha hasste es, warten zu müssen.

Auf dem gesamten Weg nach Hause schlenderte sie neben ihm her und sagte kein Wort. Das machte ihn noch mehr verrückt, als wenn sie mit ihm sprach. Ihre immerwährende Präsenz. Sie war wie eine kleine Schwester, der man nicht sagen konnte, wenn man alleine sein wollte.
Als er die Haustür aufschloss, spürte er ihre Hand an seinem Arm. Ob sie wohl spürte, dass er jedes Mal hoffte, von Wärme und Liebe begrüßt zu werden?
Hinter der Tür jedoch war bloß eine stille, dunkle Diele. Ein einzelnes Paar Hausschuhe stand dort, die Bilderrahmen auf der Kommode waren alle umgeklappt, sodass man die Fotos darin nicht mehr sehen konnte.
Und wenn er abends dieses stille Haus betrat, wenn er alle Lichter später wieder löschte und sich schlafen legte, war er froh, dass Sasha bei ihm war.

Sasha: *rüttelt Alex wach* Alex, Alex! Dir hat jemand geschrieben!
Alex: *grummelt und dreht sich weg* Der Wecker hat noch nicht mal geklingelt… *schlägt plötzlich die Augen auf* …was machst du überhaupt mit meinem Handy!? *setzt sich auf*
Sasha: *gibt ihm sein Handy* Ich habe ein bisschen Farm Mania gespielt! Ich hab eine Fohlenzucht bauen lassen! *deutet auf den Bildschirm*
Alex: //Ich hätte ihr nie zeigen sollen, wie man Apps installiert… =_=“//

Er nahm ihr kopfschüttelnd das Gerät aus der Hand und öffnete die Mitteilungen. Zwischen lauter Emails wurde einen Scream an ihn angezeigt:

@saywhat Hey, Herr Lehrer, heute Zeit für eine Chorprobe @ Uni oder bist du zu beschäftigt mit dem Korrigieren von Gehörlosen?
– Mack@Japan! | vor 3 Minuten


McKenzie. Er hatte sie vor einem halben Jahr an der Universität in einem Kurs kennengelernt, in dem er Nachhilfe für Musiktheorie gab. Sie war talentiert, aber unsagbar faul. Trotzdem hatten die beiden schnell einen Draht zueinander gefunden und er hatte sie sogar dazu bewegen können, dem Universitätschor beizutreten.
Bevor er jedoch darüber nachdenken konnte, dass er vor ein paar Wochen bemerkt hatte, wie schön ihr Lachen war, legte er das Handy beiseite und eilte ins Bad, um sich fertig zu machen.

Zur selben Zeit befand sich auch Natsu im Bad und war dabei, sich für die Schule fertig zu machen. Hypnotisiert zupfte sie ihren rosa Pony zurecht, während ihre Gedanken wieder einmal mehr um ihren Todestag kreisten. Wie konnte es sein, dass sich nach ihrem Ertrinken doch alles ganz normal anfühlte? Jede Bewegung, die sie ausführte, jede Berührung, die ihr Körper erfuhr und jede Impression, die ihre fünf Sinne aufnahmen – alles war wie früher. Ein Seufzer erfüllte das Badezimmer.

Junge: *in der Tür steht* Bist du bald fertig?
Natsu: *aus ihren Gedanken gerissen wird* Ah! *sich zu dem Jungen umdreht* Takeo! >_<
Takeo: Besser werden deine Haare nicht!
Natsu: W-wie bitte?!
Takeo: Beeil dich mal, sonst kommen wir zu spät zur Schule!

Seitdem Natsu ihr zweites Jahr an der High School begonnen hatte, war auch die High School Zeit ihres kleinen Bruders als Erstklässler angebrochen. Dieser hatte im Vorjahr gerade noch mit Ach und Krach die Aufnahmeprüfung an die Schule geschafft. Seither hatten sie jeden Morgen denselben Schulweg und bestritten diesen auch gemeinsam. So wie auch heute. Dadurch, dass Natsu im Bad geträumt hatte, standen die Geschwister nun etwas unter Zeitdruck, so dass sie den letzten Teil vom Bahnhof bis zur Schule rennen mussten.

Natsu: Und, hast du dich schon für einen Club entschieden?
Takeo: Klaro! <3 Ich trete natürlich dem Volleyballclub bei! *einen Luftsprung macht*
Natsu: *lächelt* Was frage ich überhaupt noch… Du Sportverrückter!
Takeo: *leicht beschämt grinst*
Natsu: M-Moment! Volleyball?!
Takeo: Ja… Ist damit irgendwas nicht in Ordnung? °__°
Natsu: N-nein, alles bestens! ^^“

Augenblicklich war sie neidisch auf ihren kleinen Bruder. Durch seine Entscheidung für die Volleyballmannschaft hatte er die Gelegenheit, deren Captain kennen zu lernen und mit ihm nach der Schule Zeit zu verbringen: Matsuyama.

Gerade als die Schulglocke erklang, betrat Natsu ihr Klassenzimmer und atmete erst einmal erleichtert aus. Satsuki warf ihr einen fragenden Blick zu, denn normalerweise kam ihre beste Freundin niemals so knapp zur Schule. Für eine Erklärung blieb jedoch keine Zeit, da in dem Moment, in dem sich Natsu auf ihren Platz gesetzt hatte, bereits ihr Lehrer für Musik ins Klassenzimmer trat. Ein allgemeines Raunen ging durch den Raum, ehe ein paar Mädchen anfingen, leise zu kichern, während die Jungs genervte Seufzer von sich gaben. „Schon wieder ein neuer Musiklehrer?“ Schon im letzten Jahr hatten sie drei Wechsel.
Bei den Worten des Schülers zuckte Alex unmerklich. Er hatte gehofft, dass diese Klasse ein wenig lernwilliger und neugieriger wäre. Mit einem Räuspern versuchte er, seine Unsicherheit zu überspielen.

Alex: Guten Morgen! Mein Name ist Alexander Clark und ich mache hier für einige Zeit ein Referendariat. *lächelt* Meine Fächer sind Musik und Englisch, also solltet ihr Fragen dazu haben, fragt einfach. *wartet einen Moment, bevor er weiterspricht* Ich würde mich auch freuen, wenn ihr euch kurz vorstellt und mir sagt, was für Musikstile ihr gerne hört! //Wie bei den 10-jährigen…^^“//
Satsuki: Ich mag am liebsten rockige Popsongs! Und zu meiner Frage: Haben Sie eine Freundin?
Alex: //Wieso fragen das denn immer alle? q_q“// Das ist vielleicht etwas sehr privat, meinst du nicht?
Satsuki: Hmmm.. Da haben Sie wohl Recht.. Aber.. Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass alle Mädchen in diesem Raum das gerne wissen würden! >DD
Sasha: *tritt neben ihn* Ich für meinen Teil nicht, keine Sorge, Alex! *grinst* Ich weiß ja, dass du auf Mack-Mack stehst |D
Natsu: *kann nicht aufhören, Sasha anzustarren* //Warum.. sieht sie niemand?//
Alex: *sieht Natsus starren Blick und geht zu ihrem Tisch* Hey, geht’s dir nicht gut? Möchtest du ins Krankenzimmer? *sieht eine Figur über sich aufragen* Uhm…

Ryuji war in der Zwischenzeit Natsus Blick gefolgt und konnte ahnen, was sie wohl denken würde. Was er jedoch sah, gefiel ihm nicht, so dass er sich bedacht hinter Natsu gestellt hatte - für den Fall der Fälle. Bisher hatte Alex ihn nicht bewusst wahrgenommen, er wirkte eher wie ein Schatten. Doch nun, da Alex so dicht bei ihm stand, sah er direkt in Ryujis Augen, die ihn missbilligend durchdrangen.
Bevor Alex etwas sagen konnte, kam Sasha dazu und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er den Blick von Ryuji nahm, wieder zum Pult ging und so gefasst wie möglich seinen Unterricht fortsetzte. Nach der Stunde packte er unruhig seine Sachen zusammen und warf immer wieder nervöse Blicke in Natsus und Ryujis Richtung.

Alex: Du hast mir nicht gesagt, dass es andere gibt… *murmelt in Sashas Richtung*
Sasha: Ich dachte, das sei nicht so wichtig! Aber ich finde, die beiden sehen in Ordnung aus! Meinst du nicht? ^.^ *wendet sich zu Natsu und Ryuji und winkt freundlich*

Als alle Schüler bis auf Natsu und Satsuki den Raum verlassen hatten, räusperte sich Alex hörbar und bat Satsuki schon einmal vorzugehen, da er sich kurz mit Natsu unterhalten wollte. Satsuki zog daraufhin grinsend die Augenbrauen hoch und formte mit den Lippen „Uhlala“, verließ den Raum allerdings tatsächlich und schloss die Türe hinter sich.

Alex: Ich schätze, du kannst sie sehen? *deutet mit dem Daumen auf Sasha*
Natsu: *zögerlich* J-ja…
Ryuji: Du brauchst ihm nicht weiter zu antworten.
Alex: Hm. *nimmt seine Tasche und geht zur Tür* Ich hoffe, das wird dich im Unterricht nicht ablenken. *verlässt den Raum*
Sasha: *läuft neben ihm her* Bist du sauer?
Alex: *flüstert* Gib ihr zwei bis drei Minuten. ^_^

Im Klassenzimmer blickte Natsu noch immer gedrückt starr zu Boden. Sie war verwirrt, ein wenig ängstlich. Doch vor allem war sie neugierig und es interessierte sie nur eine einzige Frage. Sie fasste all ihren Mut zusammen, rannte zur Tür und blieb in dessen Rahmen stehen.

Natsu: Wie bist du gestorben?!
Alex: *zuckt zusammen*
Sasha: Ausgerechnet…
Alex: *wendet sich Natsu zu* Wir hatten einen Autounfall…

Er ließ das Ende des Satzes offen, als die Bilder versuchten, wieder aufzukommen. Er wollte es nicht sehen, nicht noch einmal durchmachen müssen. Und vor allem wollte er nicht daran erinnert werden, dass er der einzige gewesen war, der eine zweite Chance bekommen hat.

Natsu: Und… dann!?
Alex: *starrt sie ungläubig an* //Im Ernst?//
Natsu: Also.. uhm.. Du musst nicht... *stammelt weiter vor sich hin* Ich.. wollte dir nicht zu nahe treten.
Alex: Meine Eltern haben nicht überlebt, das ist alles, was es zu wissen gibt.

Seine Worte waren hart und kalt, etwas das Sasha, die ihn lange kannte, oft erlebt hatte, wenn jemand ihn auf seine Familie ansprach.

Alex: Außerdem bin ich immer noch dein Lehrer, Natsu. Schönen Tag noch.

Ohne ein weiteres Wort ging er weiter den Gang hinunter, gefolgt von Sasha, die mit gesenktem Kopf hinter ihm her trottete.

Sasha: Das war nicht nett. *murmelt*
Alex: *flüstert* Sasha. Ich möchte nicht darüber reden. Das weißt du am allerbesten.
Sasha: Aber Reden würde dir helfen!

Alex antwortete ihr nicht, sondern ging stur weiter, bis er einen leeren Musiksaal betrat und die Tür hinter sich abschloss. Er sank an der geschlossenen Tür herunter und begann zu schluchzen. Leise und gedämpft, das Gesicht von den Händen verdeckt.
Wenn er tauschen könnte, würde er es tun. Er würde sein Leben geben dafür, dass seine Eltern an seiner Stelle leben könnten. Tief in ihm war da dieser unsägliche Hass auf sein Schicksal, ein Gefühl von Taubheit für sein eigenes Leben.
Als er den Kopf ein Stück anhob, sah er Sasha vor sich knien. Sie sah ihn aus tränenfeuchten Augen an und nahm seine Hände ihn ihre.
Und in diesen Momenten, in denen ihn jeglicher Wille verließ, wusste er, dass sie die Macht sein würde, die über ihn entscheiden würde. Denn sie war stark für ihn, obwohl er nicht darum bat – obwohl er sich selbst so sehr aufgab, dass er weinend auf dem staubigen Boden eines Unterrichtssaals saß.
Nach einiger Zeit kroch Sasha neben ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Sasha: Du hast vorhin gesagt, dass ich dir nicht gesagt hab, dass es noch andere gibt. Also: es gibt noch andere wie dich… Wie uns. Es sind nicht viele, aber es gibt sie. Ich kann dir nicht erklären, wie entschieden wird, wer dieses Schicksal teilt, aber ich bin froh, dass ich zu dir gekommen bin. Du magst Musik so sehr wie ich. Und außerdem brauchst du dringend weiblichen Rat, wenn es darum geht, das Mädchen deiner Träume zu erobern! *knufft ihn grinsend in die Seite*
Alex: Du bist unmöglich! *schmunzelt*
Sasha: *empört* Nein, ich bin einfach nur ehrlich!
Alex: Wenn ich weiblichen Rat wollte, würde ich meine Schwester fragen. Hab ich das bislang getan? Nein. Warum? Weil ich ihn nicht brauche. ;)

Sie saßen noch bis zum Ende der Pause mit den Rücken an der geschlossenen Tür und diskutierten über die Wichtigkeit weiblicher Beratung für Alex. Auch das war Sasha: mit ihrer unbeschwerten, fröhlichen Art konnte sie ihn wieder daran erinnern, wofür es sich lohnte zu leben.